Depression Tabu Thema Nebelwege.de

Wann wacht die Gesellschaft auf?

Wie ist es als psychisch Erkrankte:r in der Gesellschaft von heute zu leben?

Auch wenn viele glauben, dass Depression bereits als Krankheit und Inklusion als Selbstverständlichkeit angesehen werden sollte, ist dem bei weiten nicht so. Kristine Jäkel von nebelwege.de erzählt aus ihrer Sicht:

Ich bin krank. Psychisch krank. Vor vier Jahren bin ich quasi von jetzt auf gleich zusammengebrochen: Schwere Depressionen. Was viele nicht wissen: Es ist nicht „alles nur in deinem Kopf“, sondern auch der Körper wird in Mitleidenschaft gezogen: Krasse Erschöpfungszustände, Müdigkeit, Schlaflosigkeit oder massive Schlafattacken, Bauchschmerzen, Schwindel, Kopfschmerzen etc. Sukzessive wurden zudem noch Magersucht und eine Borderline Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Aufgrund Suizidgefährdung direkt am Anfang meiner Depression, habe ich mir sofort eine Therapeutin gesucht. Seit vier Jahren bin ich nun – bei verschiedenen Menschen – in therapeutischer Behandlung, mindestens einmal pro Woche. Ich war in drei Kliniken, stehe auf der Warteliste für 2 weitere. Ich bin 33 Jahre alt und habe nach meinem Abschluss nur 3 Monate arbeiten können, seit dem bin ich arbeitsunfähig erkrankt. Ich komme aus einer gutbürgerlichen Familie, habe Abitur gemacht und studiert. Ich wurde meist als „fröhlich“ und „gut drauf“ bezeichnet, habe immer viel gelacht, viel getanzt.

Warum erzähle ich das? Um zu zeigen, dass es mich gibt. Um ein Bild hinter dem Text entstehen zu lassen. Um eine Vorstellung von mir als Person zu erzeugen, aber auch um zu zeigen, dass es uns gibt. Psychisch erkrankte Menschen*, die oft jahrelang zu kämpfen haben, um wieder ein halbwegs „normales“ Leben führen zu können. Um zu zeigen, dass es jeden treffen kann – nicht nur die „schwachen, negativen“ Menschen, wie ja gerne angenommen wird. Nein, jeden.

Seit meines Zusammenbruchs vor vier Jahren verfolgt mich eine Frage immer wieder:

UND WAS NUN?

Rational weiß ich natürlich, dass ich erst einmal gesund werden muss. Dass meine Genesung das ist, was ansteht, was im Vordergrund steht. Aber im Hinterkopf – oder oft auch deutlich weiter vorne – hält sich hartnäckig die Frage: Wo willst du denn arbeiten? Wie willst du mit deiner Erkrankung und deinen (bislang) vier „ausgefallenen“ Jahren überhaupt etwas finden? Wirst du je wieder ein „normales“ Leben führen?

Ein Familienmitglied, welches NIEMALS zum Therapeuten gehen würde (das ganze Gerede bringt ja ohnehin nichts), weiß genau wieso: Arbeit macht gesund. Arbeit erhöht den Selbstwert und zeigt uns, das wir etwas wert sind. „Wenn du arbeiten würdest, ginge es dir viel besser, denn du hättest keine Zeit mehr ständig deinen negativen Gedanken nachzuhängen. Andere Menschen mit Depressionen arbeiten doch auch!“ Danke für den Hinweis. Ich bin mir sicher, dass ich einfach nur zu „schwach“ und zu „faul“ bin. Nicht den „nötigen Willen“ zeige und der Weg raus aus meinen psychischen Erkrankungen mit einer „normalen Arbeit“ erledigt wäre.

Natürlich nicht. Ich weiß, dass bei mir im Speziellen Arbeit ein Problemfeld war und ist und dass ein Job meine Erkrankung momentan verschlechtern, anstatt verbessern würde. Zumindest ein sogenannter „normaler“ Job. Einem Ehrenamt gehe ich nämlich nach, wenn auch sehr unregelmäßig. Aber diese Möglichkeit hilft mir, mich in meinem Tempo weiter zu bewegen und zu entwickeln. Schritt für Schritt langsam voran zu kommen. Und jeder dort weiß um meine Erkrankung, keiner hat damit ein Problem. Ich werde dort eingesetzt wie jede:r andere auch. Naja fast. Stundenmäßig etwas weniger und nicht so regelmäßig. Aber na und? Bin ich deswegen ein weniger wertvoller Mensch? Der Gesellschaft nach zu urteilen wohl schon.

Psychisch Erkrankte sollten besser Lebenslauflücken aufpeppen.

Dieses grundsätzlich leistungsorientierte gesellschaftliche Bild trägt weiter dazu bei, dass es psychisch Erkrankten so schwer gemacht wird und schwer fällt, offen mir ihrer Erkrankung umzugehen. Das wurde mir noch einmal im letzten Jahr sehr deutlich: Ich habe eine berufliche Reha gemacht, die speziell auf Menschen mit psychischer Erkrankung ausgerichtet war. Dort hat man uns geraten, die Lücke im Lebenslauf, die aufgrund von Krankheit entstanden ist, irgendwie als „Selbstfindung“, Pflege von Nahestehenden usw zu „verkaufen“ – aber man solle bloß nicht sagen, dass man psychisch erkrankt ist.

Ich verstehe, dass das ein Ansatz ist, mit dem man vermutlich in der Gesellschaft, wie sie gerade ist, am ehesten voran kommt.

Aber ich finde das falsch!

Ja natürlich, jeder hat ein Recht auf seine Privatsphäre. Es kann dich auch keiner zwingen, deine Erkrankung offen zu legen und das ist gut so. Fakt ist aber auch, dass ich nicht so leistungsfähig bin, wie jemand, der gesund ist. Dass es mir vielleicht öfter mal schlecht geht. Dass ich evtl. öfter mal eine kurze Pause einlegen muss. Dass ich nicht so viele Stunden am Stück arbeiten kann. Dass ich nicht in einem Großraumbüro sitzen kann. Es heißt mitnichten, dass ich meine Arbeit schlecht verrichte oder keine Arbeit ausüben könnte. Nur müssen die Umstände passen oder ein wenig mehr angepasst werden, als bei anderen. In anderen Bereichen ist das offensichtlicher: Wenn ein Mensch z.B. im Rollstuhl sitzt, ist es auch nicht sehr hilfreich, ihn im ersten Stock ohne Aufzug einzusetzen. So ähnlich sehe ich das bei mir: Wenn die Umstände stimmen, ist alles in Ordnung. Aber dafür muss ich eben auch offen mit meiner Erkrankung umgehen. Denn man sieht sie mir nicht an.

Das ist ja alles schön und gut, magst du dir jetzt vielleicht denken. Nur: Was hilft es, wenn ich offen bin und gerade deshalb keinen Job finde? Weil mein potentieller Arbeitgeber nicht irgend so eine:n „Psycho“ einstellen möchte?

Viele wissen immer noch nicht, was eine Depression bedeutet.

Das ist meines Erachtens eines der Hauptprobleme: Die Uninformiertheit der Bevölkerung. Die Fehlinformationen. Viel zu viele Arbeitgeber bzw. Menschen in der Gesellschaft, wissen nicht, was eine Depression ist und wie es möglich ist, psychisch erkrankte Menschen zu inkludieren. Klar, wenn ich mir unter Depression einen Menschen vorstelle, der andauernd fehlt, alternativ in die Luft starrt oder weint und immer nur schlecht drauf ist, dann würde ich die Person auch nicht einstellen wollen. Denn wer will schon ein schlechtes Arbeitsklima? Und wer hat schon Lust auf ständige Fehltage? Keiner. Und das ist verständlich. Wenn ich so einen Arbeitgeber vor mir habe, ist es mit Sicherheit sinnvoller seine Erkrankung zu verschweigen. Aber seien wir ehrlich – möchte ich dann da arbeiten? Nein.

Ich kenne diese Ansicht zu gut: Ich komme aus einem sehr leistungsorientierten Umfeld. Immer stark sein, nie schwach. „Krankheit? Das gibt es nicht, stell dich nicht so an, so schlimm ist es ja nicht.“ „Du bist doch immer so fröhlich“. Schon früh wurde uns eingebläut, es sei wichtig, etwas „gutes“, etwas „sinnvolles“ zu studieren, um Geld verdienen und sich selbst finanzieren zu können. Niemals abhängig sein von irgendjemandem. Tja, gegen diesen Grundsatz verstoße ich nun seit vier Jahren, denn ich bin abhängig. Abhängig vom Staat. Ein Zustand, der nicht gerne gesehen wird,
zumal ich eine sehr gute Ausbildung genossen habe – ich bin Rechtsanwältin. Also in der Theorie. Denn ausgeübt habe ich diesen Beruf nur drei Monate. Dann hat mein Körper sich zur Wehr gesetzt.. Doch mein innerer Leitungsanspruch quält mich weiter. Und gleichzeitig sind da die Stimmen meiner Depression, die mir einreden möchten, dass ich ohnehin nichts könne. Dass es irrelevant sei, welchen Beruf ich ergreife, ich werde ohnehin scheitern. Vor allem, weil ich ja schon so lange krank bin. Mit jedem Tag der vergeht, wächst die Angst, den Anschluss zu verlieren. Eine Endlosschleife, die ich zum Glück immer wieder durchbrechen kann.

So wie mir geht es vielen Menschen. Und ich habe ja noch Glück: Ich bin noch jung, habe einen guten Abschluss, kann einen Job finden, wenn ich wieder gesund oder zumindest stabil genug bin. Was ist mit den Menschen, die erst viel später erkranken? Die vielleicht mit Mitte 50 noch einmal neu anfangen möchten oder müssen? Ihnen wird die Jobsuche aufgrund des Alters ohnehin schon nicht leicht gemacht – wie soll das mit einer psychischen Erkrankung funktionieren?

Jahre lang hat alles funktioniert, dann kommt der Zusammenbruch.

Es macht mich traurig, dass unsere Gesellschaft so auf die Leistung fixiert ist und dabei so oft das Menschliche, das Mitmenschliche und die gegenseitige Fürsorge aus den Augen verliert, die es in einer Gesellschaft meines Erachtens geben sollte. Zu was für einen Preis? Immer mehr Menschen werden krank – ob nun psychisch oder physisch. Viele dieser Erkrankungen sind auf eine Überforderung und fehlende Grenzsetzung zurück zu führen.

Am widersinnigsten finde ich jedoch: Würde es den Menschen besser gehen, wären sie viel motivierter und dann auch produktiver! Wir richten uns selbst zugrunde für etwas, das wir in einem zumindest ähnlichem, wenn nicht sogar besserem Maßstab haben könnten, wenn es uns allen besser ginge. Wenn wir gesund wären. Wenn wir mehr auf uns gegenseitig achten würden.

Wieso tun wir das dann nicht? Wieso überschatten alles die Gier nach mehr, höher, weiter, schneller?

Mein Therapeut erzählt mir gerne das Beispiel von dem Esel mit der Möhre: Wenn ich den Esel antreiben will, kann ich das tun, in dem ich ihm eine Möhre so weit entfernt vor das Maul spanne, dass er eben gerade nicht mehr dran kommt. Er geht und geht, weil er versucht, die Möhre zu erreichen. Natürlich kommt er vorwärts, wahrscheinlich sogar schneller, je hungriger er ist. Und dennoch wird er vor Hunger sterben.

Oft fehlt einfach die Zeit.

So kommt mir manchmal unsere Gesellschaft vor. Wir verhungern bei unserem Streben nach LEISTUNG, OPTIMIERUNG, RUHM, GELD, ANERKENNUNG, ERFOLG. Und während vollkommen gesunde Menschen auch schon oft zu kämpfen haben, fallen psychisch Erkrankte hinten über. Denn wer möchte sich in unserer Gesellschaft schon mehr Zeit nehmen, um eine „solche Person“ einzuarbeiten? Wer möchte sich ihren Bedürfnissen anpassen? Wer möchte riskieren, dass sie am laufenden Band krank ist und dem Betrieb somit mehr schadet als nützt? Das hindert (vermeintlich !) das Wachstum, den Fortschritt, die Leistung, den Erfolg.

Also stellt keiner Menschen mit psychischen Erkrankungen ein?

Doch! ( s. Inklusion ) Und zwar genau die Menschen, die wissen, welche Stärken psychisch Erkrankte mitbringen. Ein Durchhaltevermögen, von dem andere oft nur träumen können, immerhin haben sie oft eine jahrelange Tortour hinter sich. Eine wahnsinnige Kraft und Stärke, immer und immer wieder aufzustehen, weiterzukämpfen, nicht aufzugeben. Sie sind oft sehr sensibel, können also Emotionen anderer gut wahrnehmen und darauf reagieren. Sie sind einfühlsam, weil sie wissen, wie schlecht es einem gehen kann und wie wichtig es ist, dass dann jemand da ist, der zuhört. Sie sind sehr hilfsbereit. In Therapien haben sie gelernt, auf sich selbst zu hören, ihre Bedürfnisse zu erkennen. Bestenfalls kennen sie ihre Grenzen gut und können diese auch kommunizieren. Darüber hinaus sind Menschen mit psychischen Erkrankungen oft sehr kreativ. Mit diesen und vielen weiteren Eigenschaften, sind sie eine Bereicherung für jedes Unternehmen.

Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft langsam aufwacht. Aus ihrem rein leistungsorientiertem Streben. Und sich zu einer Gesellschaft hin bewegt, in dem der Mensch im Vordergrund steht. Jeder. Mit all seinen Facetten. Seinen Stärken, aber auch seinen Schwächen. Die meisten Menschen verbringen so viel Zeit auf und mit der Arbeit – wäre es nicht angemessen, gerade diese Raum gesundheitsförderlich und an die jeweiligen Umstände angepasst zu gestalten? Ich sage: JA. Noch ist das eine schöne Utopie. Aber irgendwo muss man ja anfangen. Und wenn es mit träumen ist.

*Und natürlich auch diejenigen, die genesen sind! Auf die trifft mein Text auch zu.

Kristine Jäkel, Juni 2021, ©nebelwege.de